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Interview mit Heidi Retzlaff: Ich hoffe, dass sich die Menschen in meinen Bildern selbst begegnen

Heidi kommt aus Berlin und fotografiert analog – meist mit Spiegel und Kamera, manchmal mit Blick aufs Meer, auf Blumen oder Häuserfassaden. Ihre Bilder entstehen leise, oft im Alleinsein. Neben der Fotografie arbeitet Heidi mit Kindern und studiert Heilpädagogik. Alles andere bleibt zwischen den Zeilen. Ihr findet die Fotos unter fraeulein_analog bei Instagram.


Wilhelm: Liebe Heidi, schön, dass du dir die Zeit nimmst, um mit mir über die Fotografie zu schreiben. Ich bin jemand, der immer ganz direkt anfängt und nicht um den heißen Brei schreibt. Also: Neulich habe ich in einem Podcast einen Gedanken gehört, den ich ganz spannend finde: Ein Foto, das nicht die Zerbrechlichkeit der Welt (wenn auch nur indirekt) beinhalte, würde kein ästhetisches, sondern nur noch ein schönes Produkt sein. Was denkst du zu dieser Überlegung?


Heidi: Ich finde deine Überlegung sehr tiefgründig und stimme ihr weitgehend zu. Ein rein „schönes“ Bild, das keine Form von Vergänglichkeit, Zerbrechlichkeit oder emotionale Tiefe spüren lässt, bleibt oft auf der Oberfläche – es ist dekorativ, aber nicht berührend.Ästhetik im eigentlichen, tieferen Sinn entsteht häufig genau dadurch, dass ein Kunstwerk die Wunde, die Unsicherheit, das Fließende und Endliche der Welt zumindest erahnen lässt. Schönheit wird dadurch nicht zerstört, sondern erhält erst ihren vollen Wert, weil sie im Kontrast zur Verletzlichkeit steht.


Wilhelm: Finden sich die "Wunden", von denen du sprichst, auch in deinen (Selbst-)Fotografien wieder?


Heidi: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, jede Fotografie, die für mich Bedeutung hat, trägt auf irgendeine Weise eine Spur von innerer Wunde oder Verletzlichkeit in sich. Besonders in meinen Selbstporträts versuche ich nicht, etwas Perfektes oder Glattes zu zeigen, sondern eher einen Moment des Suchens, Zweifelns oder auch der stillen Hoffnung einzufangen. Vielleicht ist es manchmal nur ein Blick, eine kleine Geste oder das Licht, das die Unvollkommenheit und zugleich die Kostbarkeit des Moments sichtbar macht. Ich denke, genau darin liegt die wahre Kraft eines Bildes: nicht in der Perfektion, sondern in dem, was unausgesprochen bleibt.


Wilhelm: Durch das Unausgesprochene entsteht ein unglaublicher Möglichkeitsraum für Fotograf:in und Betrachter:in. Es treffen ja zwei Welten aufeinander. Ist es dir grundsätzlich wichtig zu erfahren, was ein Betrachter zu deinen Selbstportraits denkt bzw. was das mit ihm macht?


Heidi: Ja, das interessiert mich tatsächlich sehr – aber nicht im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung, sondern eher, was im Anderen in Bewegung gerät. Wenn jemand ein Bild von mir betrachtet und darin etwas ganz Eigenes sieht oder fühlt, was ich vielleicht gar nicht beabsichtigt hatte, dann berührt mich das. Es zeigt mir, dass das Bild lebt, dass es über mich hinausgeht. Ich glaube, wahre Kunst – oder zumindest das, was ich anstrebe – entsteht genau an dieser Schwelle: zwischen dem, was ich zeige, und dem, was beim Gegenüber anklingt. Diese Zwischenräume sind für mich das eigentlich Spannende.


Wilhelm: Ich weiß, dass der Begriff 'Vorbilder' nicht ganz unumstritten ist. Daher frage ich dich nicht nach Vorbildern, sondern nach Stilen: Gibt es Stile von anderen Fotografen im Bereich im Bereich Selbstportraits bzw. der Fotografie im Allgemeinen, die dir besonderen gefallen - oder noch spannender missfallen?


Heidi: Ich habe keine konkreten Vorbilder im klassischen Sinn – eher ein Bedürfnis, mich frei auszuprobieren, ohne zu sehr von etwas Bestehendem beeinflusst zu werden. Mich interessiert mehr der kreative Prozess als ein bestimmtes Ergebnis oder Stil. Ich lasse mich von Stimmungen, Orten, Licht oder inneren Zuständen leiten, nicht von einer ästhetischen Erwartung.

Was mir aber auffällt: Ich fühle mich oft wohler mit Bildern, die etwas Ungeplantes, vielleicht sogar Zufälliges in sich tragen – weniger kontrolliert, eher tastend, manchmal roh. Wenn etwas zu „gemacht“ wirkt, verliert es für mich schnell an Spannung. Deshalb versuche ich, mir diesen offenen Raum zu bewahren, in dem ich nicht wissen muss, wie es aussehen soll, sondern nur, wie es sich anfühlt.


Wilhelm: Was macht für dich in diesem "Anfühlen" den Reiz der Schwarzweiß- und was den Reiz der Farbfotografie aus?


Heidi: Das ist eine schöne Frage, weil sie für mich viel mit Intuition zu tun hat. Schwarzweißfotografie fühlt sich oft wie ein Konzentrat an – sie nimmt alles Überflüssige weg und legt das Wesentliche frei: Licht, Schatten, Struktur, Emotion. Farben lenken manchmal ab, während Schwarzweiß den Blick auf das Innen richtet, auf das, was sich nicht gleich erklären lässt. Ich greife zu Schwarzweiß, wenn ich etwas Festes, Reduziertes, fast Zeitloses ausdrücken möchte.

Farbfotografie hingegen bedeutet für mich eher Atmosphäre, ein Spiel mit Temperatur und Präsenz. Farben können etwas Zartes, Flüchtiges oder auch Verstörendes in ein Bild bringen. Besonders sättigende, gedämpfte Töne berühren mich – sie haben etwas Wärmendes, manchmal auch etwas Melancholisches. Wenn ich Farbe nutze, dann meist sehr bewusst, oft zurückgenommen – nicht, um etwas zu verschönern, sondern um eine bestimmte Tiefe spürbar zu machen. Am Ende ist es also das Gefühl, das entscheidet – nicht die Technik. Schwarzweiß spricht für mich mehr aus dem Inneren, Farbe eher aus der Welt heraus.


Wilhelm: Dann nehme ich dich mal beim Wort. Das rechte Foto habe ich in deinem Instagramportfolio gefunden. Was spricht hier aus der Welt heraus?


Heidi: Das Leben in Berlin. Der Späti: Immer offen, immer beleuchtet, ein sicherer Anker in der unsteten Stadt. Und doch strahlt er eine gewisse Kälte aus – weil das Licht zwar warm scheint, aber keinen wirklichen Trost bietet. Er verkauft Notwendigkeiten, nicht Geborgenheit. Die Farben: Wenn sie, wie bei mir oft, leicht verblasst oder warm getönt sind, wirken sie wie Erinnerungen. Nicht dokumentarisch, sondern emotional. Die Welt ist nicht so, sondern so empfunden.

In diesem Foto steckt das Flimmern zwischen Nähe und Fremde, zwischen Rast und Ruhelosigkeit. Es spricht nicht laut, aber ehrlich. Vielleicht sagt es: „Hier wartet niemand – und trotzdem ist Platz für dich.“


Wilhelm: Würdest du sagen, dass Frauen anders fotografieren als Männer?


Heidi: Ich glaube, es gibt eher Unterschiede in der Haltung oder im Blick – nicht unbedingt, weil jemand eine Frau oder ein Mann ist, sondern weil jede*r mit einer anderen Sensibilität an Dinge herangeht. Vielleicht haben Frauen manchmal einen intuitiveren Zugang oder achten stärker auf Zwischentöne… aber das lässt sich nicht verallgemeinern. Es gibt auch Männer, die sehr feinfühlig fotografieren, und Frauen, die ganz nüchtern oder konzeptuell arbeiten.


Wilhelm: Philosophieren Männer nicht tendenziell etwas mehr über die Technik?


Heidi: Vielleicht schon – oder sagen wir: Sie reden eher darüber. Technik fasziniert viele Menschen, aber ich habe den Eindruck, dass Männer öfter den Diskurs darüber suchen oder sich stärker über technische Aspekte definieren. Das heißt aber nicht, dass sie technischer fotografieren oder tieferes Verständnis hätten. Es ist oft einfach eine andere Art, sich dem Medium zu nähern. Manche brauchen Zahlen, andere Stimmungen. Beides kann großartige Fotografie hervorbringen.


Wilhelm: Da gebe ich dir recht, oft ist es ja die Komplexität, die das Großartige ausmacht. Die Technik hat durch ihre Faszination durch aus etwas Ästhetisches an sich und damit auch einen gewissen Unterhaltungswert, ohne den die Fotografie heute auch kaum zu denken ist. Wie wichtig ist dir der Zuschauer bzw. der Betrachter deiner Fotografie?


Heidi: Das ist eine schöne Frage. Ich denke manchmal darüber nach, wie viel von dem, was ich zeige, wirklich für den Betrachter gedacht ist – und wie viel einfach nur aus einem inneren Drang entsteht. Natürlich wünsche ich mir, dass meine Bilder gesehen, vielleicht sogar verstanden werden. Aber ich fotografiere nicht, um zu gefallen. Vielmehr hoffe ich, dass sich Menschen in den Bildern selbst begegnen, dass sie innehalten, etwas spüren. Wenn das geschieht, entsteht eine Verbindung – ganz ohne Worte. Das ist für mich das Schönste.


Wilhelm: Diese Antwort fühle ich sehr mit dir. Ein "schönes" Schlusswort.

 

 
 
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